„The Prow“
am Washington Column im Yosemite Valley ist einem Schiffsbug
sehr ähnlich. Es ist also nicht verwunderlich, dass der
Erstbegeher Royal Robins diese schöne Line durch eine gewaltige
Plattenflucht so getauft hat. Die Headwall im Mittelteil wird
von einem sehr dünnen Riss durchzogen und ist leicht
überhängend. Wir planen für die Tour 2 Tage, rechnet man den
Abstieg dazu, so werden es 3 Tage sein. Martina kümmert sich um
unser Essen und um das nötige Wasser in der Wand. Ich sortiere
und lege das Material zusammen und es dauert nicht lange, bis
der Haulbag fertig gepackt vor uns steht. Spät am Nachmittag
beginnen wir unsere Ausrüstung zum Wandfuß zu schleppen. Martina
trägt das schwerere Gepäck von uns beiden. Sie ist stark
motiviert und will mich für die kommenden Tage schonen. Viele
lästige Mücken fliegen uns pausenlos in die Augen, während wir
den steilen Weg empor zum Einstieg gehen. Dort angelangt erleben
wir eine sehr positive Überraschung! Die Wand ist menschenleer
und wir nutzen die Gunst der Stunde und beginnen sofort die
erste Seillänge zu fixieren! Wer zuerst kommt, der klettert auch
zuerst, das ist ein ungeschriebenes Gesetz im Yosemite Valley!
Knapp vor Mitternacht stehe ich wieder am Wandfuß und das Seil
hängt 60 Meter von oben herab. Das Klettern in der Dunkelheit
war sehr angenehm. Im Lichtschein meiner Stirnlampe legte ich
Keil um Keil und arbeitete ich mich höher. Lediglich ein Uhu
beobachtete Martina beim Sichern. Leider wurde er unabsichtlich
von ihrem Stirnlampenlicht geblendet, er dürfte wohl den Rest
der Nacht blind verbracht haben.
Nun geht der Mond auf und es wird richtig hell. Morgen ist
Vollmond! Wir schlafen am Wandfuß. Nach einigen Stunden weckt
mich Martina. „Peter, da ist jemand in unserem Haulbag“ sagt sie
zu mir. Ich gebe dem Sack einen Fußtritt, plötzlich springt ein
Tier heraus und verschwindet sehr rasch in der mondhellen Nacht.
Nach diesem Schreck schlafen wir etwas unruhig weiter, bis uns
der Wecker um halb sechs Uhr morgens dann endgültig aus dem
Daunenschlafsack holt. Wir kochen einen Haferflockenbrei und
trinken Tee. Während ich am fixierten Seil mit meinen
Steigklemmen hochsteige, wird es hell. Martina folgt mir und wir
ziehen den Haulbag samt Portaledge auf den ersten Stand. Die
nächste Seillänge ist „C3“ und ich muss einige Copperheads
benutzen. Unter einem kleinen Dach ist Stand. Mittlerweile ist
die Sonne aufgegangen und erhitzt schön langsam die Wand und
natürlich auch unseren Körper. Wir wissen, dass wir von nun an
die nächsten 6 Stunden der prallen kalifornischen Hitze
ausgeliefert sind und bewegen uns deshalb dementsprechend
ökonomisch und langsam. Unsere Wasservorräte sind knapp
bemessen und wir müssen sparsam damit umgehen. Einfach „lossaufen“
geht da nicht. Uns wird dabei immer wieder bewußt, wie
unbedenklich und sorglos man im Tal den Wasserhahn aufdreht und
das kostbare Nass verpritschelt und oft sinnlos vergeudet!
Wir schaffen es am heutigen Tag lediglich bis zum fünften
Standplatz. Mehr war nicht drinnen. Die Route hat elf
Seillängen, da heißt es morgen ordentlich Gas geben. Ich hoffe,
dass zumindest die Ausstiegsseillängen etwas leichter werden,
damit wir schneller sind. Wir bauen unsere Portaledge zusammen.
Mittlerweile sind wir schon so gut in Übung, dass der
Zusammenbau relativ rasch geht. Wir hängen in unseren
Klettergurten mitten in der steilen und glatten Wand. Es gibt
nicht einmal ansatzweise eine schmale Leiste, wo wir unsere Füße
abstützen können. Wir drehen und wenden das Bett hin und her und
spannen dabei ein reißfestes Material über einen Alurahmen.
Endlich ein ebener Platz zum Sitzen! Wir nehmen sämtliche
Ausrüstung von den Gurten, damit wir später ungestört liegen und
schlafen können. Der Tiefblick ist gewaltig und die
Ausgesetztheit würde einen Nichtkletterer wahrscheinlich
ordentlich erschrecken lassen. Für uns ist es kein Problem,
obwohl ich immer wieder erstaunt bin, in welcher luftigen
Steilheit wir uns da bewegen. Weit unten sehen wir das „Curry Village“ im Yosemite Valley und alle Häuser haben bereits das
Licht aufgedreht. Die Nacht bricht herein und ich betätige den
Piezoanzünder bei unserem Kocher. Ein tolles Gerät mit maximaler
Brennleistung und einer modernen Aufhängevorrichtung! Bald
siedet das Wasser und wir kochen Suppe, Tee und Brei. Martina
schreibt ihr Tagebuch und ich genieße den Mondaufgang hinter dem
Half Dome. Morgen wird ein anstrengender Tag, der uns alles
abverlangen wird! Mehr als wir zu diesem Zeitpunkt ahnen!
5 Uhr am Morgen: aufstehen, knappe Morgentoilette, kochen,
frühstücken und fertigmachen zum Weiterklettern, das alles auf
1,75 Quadratmeter. Knappe 2 Stunden später bin ich wieder
unterwegs. Martina sichert mich. Ich klettere einen feinen Riss
empor und lege verschiedene Keile und Spezialklemmgeräte zur
Fortbewegung. Immer wieder klippe ich die Leiter in die nächste
Verankerung und belaste sie vorsichtig. Nach einigen Wippen
steige ich kompromisslos hoch. Entweder es hält oder es hält
nicht! Nach 135 Fuß (das typische amerikanische Maß) erreiche
ich den Standplatz, ohne Sturz, Gott sei Dank! Martina ist weit
unter mir! Sie löst den Haulbag, der in die Luft hinaus schwingt
und sofort wieder, wie ein Pendel, fast bis zum Stand
zurückkehrt. Nun beginnt ihr Part, sie muss sämtliche Hacken und
Keile, die ich im Riss belassen habe, wieder mühevoll
herausarbeiten und mitnehmen. Oft höre ich sie fluchen und kurze
Zeit später geht ihr das Cleanen dann plötzlich wieder leichter
von der Hand! Die Sonne ist zurückgekehrt und heizt uns wieder
kräftig ein. Wir genehmigen uns immer nur ganz kleine
Schlückchen Wasser, obwohl wir eine ganze Gallone austrinken
könnten! Ich kann vor lauter Mundtrockenheit kaum mehr reden
und Martina tut sich oft schwer, mich zu verstehen. Die nächsten
2 Seillängen müssen wir noch überstehen und dann kommt endlich
der langersehnte Schatten.
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Im Topo
steht „C1“ und das bedeutet nicht sehr schwer!
Ich bin in diesem Fall aber anderer
Meinung. Ein schmaler Riss, der oft über mehrere Meter
geschlossen ist, zwingt mich ganz schön zum Tricksen. Nicht
ungefährlich, diese Seillänge. Ich brauch mehr Zeit als erwartet
und es kostet mich einiges an Energie diese Stellen zu
bewältigen. Zu guter Letzt darf man als Belohnung dann auch noch
den Haulbag hochziehen und als Draufgabe dabei noch einige
Kniebeugen machen, damit man den Sack mittels Körperflaschenzug
überhaupt herauf bewegen kann. So ist das eben beim „Bigwallen“!
Man kann nicht einfach aufhören, nur weil man keine Lust mehr
hat, oder weil man glaubt, keine Kraft mehr zu haben. Es kommen
enorme psychische und physische Belastungen zustande, mit denen
man in jeder Lage und zu jeder Zeit in der Wand fertig werden
muss. Ein „nach Hause gehen“ gibt es in solchen Momenten nicht!
Die meisten Leute in einem Fitnesscenter hätten unter diesen
Bedingungen und Belastungen ihre Hanteln wahrscheinlich schon
lange abgelegt! Dazu kommt der Flüssigkeitsmangel, der einem das
Blut in den Adern eindicken lässt und den Denkprozess sowie die
Reaktionsfähigkeit vermindert. Es ist immer wieder interessant,
wie der Körper auf solche Situationen reagiert. Die Steilheit,
die Ausgesetztheit, die Hitze und die Anstrengung machen einem
das Leben zur Hölle, Fehler sind trotz alledem nicht erlaubt!
Der Schatten bringt Erleichterung und ich klettere die neunte
Seillänge. Ich kann diese 50 Meter relativ rasch bewerkstelligen und
komme zu einem Felsband, bei dem auch der Standplatz ist. Ich
fixiere das Seil und funke zu Martina, dass sie nachkommen kann.
Noch 2 Seillängen und wir haben es geschafft. Ich trinke immer
wieder kleine Mengen Elektrolytgetränk, damit der Körper das
noch überstehen kann. Es wird finster und wir montieren die
Stirnlampen auf unsere Helme. Ein letzter, steiler und
handbreiter Riss ist noch zu bewältigen. Danach wird es zwar
leichter, doch das erweist sich trügerisch! Im leichten Gelände
lauern andere Gefahren! Viele kleine Steine und Sand verwandeln
das ganze in ein Kugellagerfeld, ich muss höllisch aufpassen,
dass ich nicht ausrutsche. Die Orientierung mit der Stirnlampe
wird ebenfalls zu einem Problem. Es gibt so viele Möglichkeiten,
der Weg ist hier nicht mehr klar vorgezeichnet. Man trachtet
verständlicherweise immer danach, den ungefährlichsten Weg zu
finden und das ist keineswegs einfach. Endlich erreiche ich das
Gipfelplateau und finde auch gleich einen Baum, wo ich uns
sichern kann. Martina ist noch in der Wand, es ist stockdunkel,
doch bald wird wieder der Mond hinter dem Half Dome zum
Vorschein kommen. Ich habe keinen Funkkontakt mehr und muss
zurück zur Felskante. Dort verständige ich Martina, dass sie den Haulbag losbinden kann. Ich versuche ihn hochzuziehen, doch das
ist in diesem gestuften Gelände nicht möglich. Das Haulbagseil
geht um mehrere Ecken und lässt sich keinen Zentimeter bewegen.
Wütend baue ich einen Flaschenzug auf und beginne erneut zu
ziehen. Der Haulbag bewegt sich nur wenige Millimeter nach oben.
Martina versucht unterdessen in der Wand unseren Sack mit den
Händen hoch zu heben, was ihr nur mit größter Anstrengung
gelingt. Ich ziehe wie verrückt am Seil bis es sich wenige
Zentimeter bewegt. Mein Puls rast dabei in nicht mehr zählbare
Höhen. Diese Ausstiegsseillänge verlangt uns noch einmal alles
ab. Ich glaube jeden Moment tot umzufallen. Der Körper leistet
noch einmal alles. Es dauert über eine halbe Stunde, bis endlich
das Stirnlampenlicht von Martina über die Felskante
hervorleuchtet. Auf allen Vieren krabbelt sie mir entgegen. Wir
fallen uns in die Arme und dann miteinander auf den Boden. Dort
bleiben wir völlig erschöpft einige Minuten regungslos liegen.
Als sich mein Puls beruhigt hat, öffne ich die Augen. Erst jetzt
sehe ich, dass der Mond gekommen ist und alles hell erleuchtet.
Die Steine, die Sträucher und Bäume, die Berge rund um uns herum
und das ganze Yosemite Valley glänzen im Mondlicht. Über 16
Stunden sind wir nun schon auf den Beinen, es ist halb zehn Uhr
am Abend. Wir teilen das letzte Wasser auf und geben noch einen
halben Liter für den morgigen Abstieg zur Seite! Anschließend
kochen wir uns eine Suppe. Durstig legen wir uns in die
Schlafsäcke und besprechen den Abstieg. Wir beschließen, dass
wir fast das ganze Gepäck und Material hier am Gipfel
zurücklassen werden und es dann einen Tag später, ausgerastet
und gestärkt, holen. Wir kannten den Abstiegsweg zu wenig genau,
um mit so schweren Säcken den sehr gefährlichen Steig
hinunterzugehen. Wir waren erschöpft und durstig, deshalb
wollten wir auf keinen Fall etwas riskieren. Es erscheint uns
eine vernünftige Lösung zu sein und genau das sollte sich auch
am nächsten Tag bestätigen. Ich schlafe bis mich irgendwann in
der Nacht ein lautes Rascheln aufweckt. Ein kleiner Nager
versucht den Lebensmittelsack zu klauen, den ich als Kopfpolster
benutze. Ich erschrecke und verjage das Tier mit einem lauten
Schrei, ohne es jemals wirklich gesehen zu haben.
Am Morgen sortieren wir die Ausrüstung und machen uns auf den
Weg in das Tal. Der Abstieg ist schwer zu finden und verläuft
sehr gefährlich ganz nah an einem steilen Abbruch. Wir legen
Steinmänner, damit wir uns dann beim Gepäckholen leichter
orientieren können. Drei Stunden Später erreichen wir mit dem
letzten Tropfen Wasser unser Auto. Ich nehme die Campingsessel
heraus und greife in die Kühlbox um ein Bier. Es zischt und ich
genieße diesen Gerstensaft mit unzähligen kleinen Schlucken so
lange, bis die Dose fast leer ist. Es ist ein unbeschreibliches
Gefühl! Martina sagt: „Der Durst ist schlimmer als Heimweh, das
würde ich sofort unterschreiben“! Wie recht sie hat!
Ende eines 40er Ausfluges! |